Die Band spielt lateinamerikanische Folklore. Das Publikum, bunt, tätowiert, gepierct, punkig, Familien, alternativ, Touristen tanzen, Johlen und klatschen vor Begeisterung. Die Musik ist kraftvoll und der Höhepunkt dieses Straßenfestes im Cerro Bellavista. Die Chilenos haben sich ihre Folkkore nicht hat nehmen lassen von den Rechten: es ist revolutionäre Folklore. Die kraftvolle Stimmung erfasst mich, begeistert mich. Es ist mein erster Abend hier in Valparaiso und ich fühle mich sofort wie zu Hause. 

Die Stadt ist ein Gesamtkunstwerk aus wunderschönen Graffitis und Wandmalereien, die fast jedes Haus auf den unzähligen Hügeln der Stadt bekleiden. Die Themen der bunten Bilder: Der Kampf um Gerechtigkeit, Indigene, Fantasy und immer wieder Tiere, vor allem Katzen. Es ist auch die Stadt der Katzen. In fast jedem Haus wohnen mehrere von ihnen. Gut gepflegte wunderschöne Mitbewohner*innen. Ich wohne bei Alonso, seinem Sohn Noah und der Katze Mila. Wir sind Freunde vom ersten Moment an. Mit Noah spiele ich Super-Mario, Mila schläft auf meinem Bauch und mit Alonso habe ich wunderbare Gespräche und er gibt mir eine Yogastunde, denn er ist auch Yogalehrer … in seinem Wohnzimmer mit diesem wunderbaren Ausblick über die Stadt und das Meer. 

Morgens besuche ich meinen Spanischkurs. Ein spannendes, spezielles Erlebnis. Arturo Morales, ein Dichter und Historiker, gibt mir Einzelstunden. Schon bald sind es kaum noch Sprachstunden, unsere Themen sind erneut die chilenische Geschichte, der Vergleich zur Deutschen und die Situation im Land. Ich möchte gern verstehen, was los ist mit diesem Volk, was sind die Probleme, worum streiten sie. Seit den blutigen Protesten 2019 bis 2020 läßt mich diese Frage nicht los. Bei Arturo bekomme ich Antworten.

In den 80er Jahren formiert sich in Zeiten der Militärdiktatur Pinochets eine starke Opposition, eine Bürgerbewegung, die politische Reformen verlangt. Arturo ist Teil dieser Bewegung. Im Jahr 1990 stürzt Pinochet (geboren in Valparaiso) auch deshalb weil die USA ihm die Unterstützung entziehen, die zu seinem Machterwerb geführt hatte. Es folgt eine Demokratie, die sich bis heute schwer tut. Konservative und sozialdemokratische Präsident*Innen wechseln sich ab, es gibt viele Verbesserungen, sozialer Art, in Form von Zusatzartikeln zur Verfassung, mehr Mitbestimmung … aber keinen grundlegenden Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Systeme. Der Neoliberalismus begünstigt die herrschende wirtschaftliche Klasse. Es entwickelt sich kein produzierendes Gewerbe, Chile exportiert vor allem Rohstoffe, wie Kupfer, vor allem nach China. Eine eigene Wertschöpfung aus den kostbaren Rohstoffen in Form eigener Industrien hat sich kaum entwickelt. Die Arbeitsbedingungen der Arbeiter sind zum Teil archaisch. Bildung und Wohlstand, eine Frage der Herkunft. Die Studenten forderten 2019/20 endlich Veränderungen, ausgelöst durch die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr.

Auf dem Cerro Alegre, dem meistbesuchten Touristenviertel in Valparaiso sehe ich, was manche Chilenen dennoch aus der schwierigen Lage machen: Ein unglaublicher Reichtum an Initiativen und Ideen, um sich selbst über Wasser zu halten und die Community zu fördern. Emma hat einen Parkplatz gefunden vor einer Galerie, die Werke von chilenischen Künstlern anbietet und ausstellt. Bemerkenswerte Stücke. Galerien, wie diese gibt es hier unzählige, dazu Cafés und Restaurants, die um den Titel der besten Chiles konkurrieren, ganz viele mit Terrassen, die eine wunderbare Aussicht aufs Meer bieten. Ganz oben auf „meinem“ Hügel gibt es eine Initiative, die sich um die zahllosen obdachlosen Hunde der Stadt kümmert. Hier gibt es Unterkunft, Futter und Liebe für sie. In dieser Stadt ist wirklich jede/r willkommen. Schon am zweiten Tag werde ich fröhlich begrüßt in „meiner“ Stammkneipe in „meinem“ Stadtviertel, niemand bleibt hier lange allein.